Ich bin doch nur

ICH BIN DOCH NUR AUS DER FERNE GANZ NAH,
wenn der Garten meiner Kindheit in meinen Gedanken Platz nimmt. Der Fußball, der von Großvaters pensioniertem Fuß grenzüberschreitend über nachbarliche Hecken gestoßen wurde, brachte unseren beiden Mannschaften, bestehend aus Großvater auf der einen Seite und mir auf der anderen Seite, schockierte Blicke, aber auch nachsichtige, verzeihende Gesten ein. Wurde doch am südlichen Stadtrand von Wien in fernen Kindheitssommernachmittagen ernsthaft gesportelt.

Der Fußball war aus Plastik. Die Nachkriegsgeneration war aus Plastik. Die Eltern hatten mit dem Wiederaufbau zu tun. Ich war ein Großvaterkind. Später – während der sogenannten 68er Jahre – war ich mit meiner Kunst schon längst über alle Berge, während andere heftigst gegen Plastik-Gott und Plastik-Mensch protestierten. Das einstige Garten-Leben in schwarz-weiß-kalten Radierungen – als bislang jüngster Schüler der Akademie – wiederauferstehen zu lassen, war mein Ziel.

Politische Regungen waren nicht spürbar vorhanden beim Bub, der mit dem Zeichnen sehr gut zurecht kam. Kritik an Zeiterscheinungen machte sich erst Jahre danach auf eine ganz persönliche Art bemerkbar.

Großmutter ruft zum Mittagessen. Das ist ein Befehl. Großvater rettet mich vor dem dicken schwarzen Mann. Auch vor dem katholischen Kindergarten. Ich setze meinen Willen durch. Keiner darf dem Enkerl ungestraft etwas antun. Der Kleine ist exklusiv in den kräftigen Armen des großen Vaters aufgebahrt. Die Eltern sind zum Geld unterwegs.

Längst schon sind die Ziegelteiche am Wienerberg zugeschüttet. Und damit das Elend der „Ziegel-Böhm“, die zum Berg gerufen worden waren, um Ziegel zu schupfen. Baron Drasches Schloßpark ist einer Autobahntrasse gewichen. Auf einem der Teiche brach der Schüler Dwořak durchs Eis und ertrank. Der Aufsatz über meinen Untergang wurde ein großer Klassen-Erfolg.

Legenden über ein Familienleben mit beißender Mutter, bellendem Vater, zähnefletschender Katze und einem vor dem Überlebensbiß durch eine Schutzhülle der besonderen Art abgeschirmten Sohn werden fortan in das Bildgeschehen aufgenommen.

Zwischen linierten Zeilen fragt der Kindmann nach dem Weg. Die nachdenkliche Straße hat er bereits gefunden.

Aus dem fernen nahen Himmel regnet es handwerklich geschickte Schusterbuben, die Nägel für „Lebenslaufschuhe“ fertigen. Ich gehe auf ein dramatisches Bier in einen schattigen Sommergarten. ohne Selbstironie wird kein Stück uraufgeführt. Selbstmitleid erwartet mich stets mit offenen Armen. Das Herzflattern des an Liebe Leidenden wird auf Wunsch eingestellt.

Menschliche Bauten der 50er Jahre waren grau und unmenschlich, dafür gab es aus dem Amerikanischen übersetzte Voll-Busen-Schönheiten mit hausfraulicher Begabung. Die Frau mit den viel zu kleinen Brüsten und dem zu kurz gekommenen Hausfrauenverstand gerät mit einem Suchenden zwischen endlosen Küssen in das letzte Konzert des großen Dirigenten im Musikvereinssaal. Wir werden behutsam eingestellt und fein stillgelegt. Vor allem im zarten, angreifbaren Alter. Später bilden sich vielfach Krusten. Großmutter liegt über Großvater im Baumgartner Friedhof. Ich besuchte die beiden bisher kein einziges Mal in ihrer jetzigen Wohnung, frage mich aber ernstlich, ob die oma dem opa den Wein immer noch im Kasten versteckt, damit er nicht weinselig wird? Aber da ist ja noch Großvaters Bruder, der gerne Schach spielt im Grab. Die drei werden sich schon verstehen untereinander!

Meine Eltern gehen regelmäßig zur letzen Wohnstatt der Großeltern. Und wenn ich Mutter frage, was die Großmutter erzählte, bekomme ich keine erschöpfende Auskunft. Als Kind wurden mir auch viele Fragen nicht beantwortet. Ich nehme an, daß die beiden Frauen auch jenseits der offenen Grenzen tschechisch miteinander reden, damit die letzten Geheimnisse bewahrt werden. »Wir sind waschechte Wiener!« sagte der Dwořak mit dem Hatschek, der wirklich nichts dafür konnte und kaum ein tschechisches Wort beherrschte. Dafür war aber die dominante Frauenseite der Dwořaks, der Höfler, Hofbauers, Hofmeisters und Hofnarren immens zwiesprachlich unterwegs. Der kleine Peter wurde von allen fremdländischen Elementen ferngehalten und mit dem Prädikat »echta Weana« ausgestattet. Seither spricht er keinen eindeutigen Dialekt und weint in die Moldau beim Anhören des rahmig-schmetternden Vaterlandes von Smetana. Das Schach zwischen Großvater und Enkel war unfair. Ich gewann unverhältnismäßig oft. Damit war die Welt um einen Schacheleven ärmer. Großmutter streifte die Kleider nicht so ganz ab, wenn es an der Zeit war, ihre ehelichen Pflichten zu erfüllen. Aber katholisch war sie trotzdem nicht. Es war halt so Sitte in der guten alten Zeit. Wenn der alte »Drahra« nach zwei bis drei Tagen in die Bassenawohnung mit clo am Gang in ottakring zurückfand, weinte er sich bei mir ausgiebig aus und sah keinen Sinn im Leben, bis ihn die Oma auf den billigen Linoleumboden der Tatsachen zurückholte und ihren wieder einmal total betrunkenen schönen Mann ins Bett zerrte, das mit einem scheinheiligen Heiligenbild voller Engel und einer spärlich bekleideten Jungfrau umrandet war. Er schlief dann laut schnarchend seiner Wiedergeburt entgegen. Bis zum nächsten „Durchdrahra“.

Es gibt Säufer, es gibt Verbrecher, es gibt Mörder. Das ist halt so. Halt! Wir haben damit mitnichten zu tun. Schlußendlich sind wir normal. Fix noch einmal!

Ich bin doch nur aus der Ferne ganz nah, wenn ich heutzutage von der Herstellung und dem Verkauf von Trugbildern lebe.