Bruder Sonne

BRUDER SONNE UND SCHWESTER MOND
leuchten als blau-rote Kugeln vor himmlischem Hintergrund von oben herab auf ein Erdenjahr im Wonnemonat Mai. Das Geschwisterpaar ist anwesend wie Tag und Nacht, wenn lüstern hängende Lampen BARlichtig oder kristallverziert von der Decke eines möglichen Western-Saloons auf die Kulissenlandschaft körperlicher Angelegenheiten ihr Licht werfen. Nach Besichtigung des düster erhellten Bordells begeben sie sich in die Fertigteilwohnung einer durchschnittlichen Wiener Familie. Unterwegs  denken  sie über die Bedeutung  der nackten Glühbirne in Picassos Guernicabild nach und frösteln bei der Vorstellung, auch dereinst einmal so spärlich zum Einsatz zu kommen. Im Kinderzimmer der kleinsten staatstragenden Zelle sehen sie Nachwuchs computersteuern. Im Schlafzimmer der Eltern werden sie abgeschaltet. Es ist Samstag. Licht stört Sex. Die Haustiere sind entweder im Käfig oder in der Vorgartenstraße unterwegs.

Die Heruntergekommenen von der Meldemannstraße dürfen die bereits müde gewordenen elektrischen Straßenlaternen als Wegweiser ins nächste Beisl verwenden. Beim Baron Drawnicek in der Mondscheingasse sind die Lichter bereits ausgegangen. Volle Mondgesichter kringeln um ein denkmalgeschütztes Abbruchhaus.

Fahles Licht fällt auf die Hohe Warte eines Musikmalers, der Sonnenseiten schattierte, um in seinem abgeschlossenen Komponierhäuschen am Attersee unsere Geschwister in musikalischen Bezeichnungen sterben und auferstehen zu lassen. Wien ist schön morbid für Künstler, sagte der Professor. Paris ist auch alt und gut. Venedig ist gut, aber leider bald aus.

Ich bin ein ottakringer Naschmarktkind, das im 23. Hieb aufgewachsen ist, und wenn ich mit den Lichtern »meiner« Stadt nicht einverstanden bin, werde ich vielleicht hierbleiben, bleibe ich da, bleibe ich.

Servus Franzl, der Du in meiner Gasse in einem winzigen Zimmerchen mit Klavier, das Dir Dein gutsituierter Bruder großzügig zur Verfügung stellte – ohne Deine drei Mäderl, die Dich sowieso auslachten, weil Du nicht gerade der Leichtverständliche warst, obwohl Du versucht hast, ich weiß, aber lassen wir das –, gestorben bist.

Gustav, laß das Licht an, wenn Du gehst! Und Du, Ludwig van, hast so ziemlich alle Bezirke der Wienerstadt bewohnt, rastlos bist Du schon lange nicht mehr. Mein Vater erzeugte und verkaufte Lüster und Lampen.